October 16, 2018 / erstellt am:  November 15, 2018
Fotografie, Ausstellung, Kunst / Bewertung: 5

Illegale Fotografie

Das Problem mit Fremdsprachen ist, dass man immer nur sagt, was man sagen kann, und nicht, was man sagen will. Dieser Satz ist leider nicht von mir, sondern von Robert Menasse aus dem Roman «Die Hauptstadt», den ich gerade lese und mich köstlich amüsiere. Aber darum soll es nicht gehen. Der Satz beschreibt viel mehr, wie ich mich gefühlt habe im Pavillon Carré de Baudouin in Paris, in der Ausstellung des Fotografen Willy Ronis, als mich eine Frau ansprach und ich durch meine verkümmerten Französischkenntnisse nur ein zögerliches «Pourquoi?» hervorbringen konnte.

Juristisch betrachtet hatte sie ja Recht, als sie mich wie eine Furie zurechtwies, dass ich keine Einwilligung hätte, die Kinder zu fotografieren. Soviel Französisch hatte ich verstanden. Man darf niemanden ohne seine Einwilligung fotografieren. Dies regelt das Persönlichkeitsrecht. Witzig war, dass in der Ausstellung von Willy Ronis sogenannte Streetfotografie gezeigt wurde. Es also gerade darum ging, dass andere Menschen ohne ihre Einwilligung fotografiert wurden. Wie sie wohl diesen Widerspruch ihren Kindern erklärt?

Natürlich respektiere ich die Gesetze und würde jederzeit die Fotografie löschen, falls mir jemand mit Klage drohen würde. Allerdings appeliere ich auch an den gesunden Menschenverstand. Durch meine Fotografie in der Ausstellung ist den Kindern kein Schaden zugefügt worden. Mir gefiel die Situation, wie die Kinder Fotografien betrachteten und zusammen mit ihrer Lehrerin darüber diskutierten. Das Ergebnis ist jetzt nicht der grosse Wurf geworden. Aber das weiss man im Voraus ja nie. Gerade durch die ganze Geschichte dahinter, erhält die Fotografie für mich aber nun einen besonderen Wert. Ich muss zugeben die rechtliche Situation nicht vorher abgeklärt zu haben. Es kann gut sein, dass in Frankreich das Persönlichkeitsrecht höher gewertet wird als die Kunstfreiheit. Zur Not wäre meine Fotografie dann eben Kunst. Wer kann das schon so genau definieren?

«Was wiegt schwerer? Kunstfreiheit oder das Persönlichkeitsrecht? Wenn ein Gericht sagt, dass die Persönlichkeitsrechte höher wiegen, als die Kunstfreiheit, dann ist die Straßenfotografie faktisch am Ende. Das öffentliche Leben wird seit über 100 Jahren fotografisch dokumentiert, die Straßenfotografie hat großartige Kunstwerke hervorgebracht und gibt uns einzigartige Einblicke in das gesellschaftliche Leben verschiedener Epochen.» (Fotograf Espen Eichhöfer im Interview von Sebastian Ritter und Jenny Mitscher)

Im Internet findet man viele Einträge zum Thema Streetfotografie und die rechtliche Situation, die in jedem Land unterschiedlich gehandhabt wird. Aber viel mehr beschäftigte mich die Frage, warum diese Frau mich überhaupt ansprach und mich davon abbringen wollte zu fotografieren. Mit aller Vehemenz. Ihr Auftreten würde ich sogar als aggressiv bezeichnen. Hat sie nur aufbegehrt weil sie wusste, dass sie im Recht war? Oder war es irgend eine diffuse Angst vor Missbrauch, die sie dazu bewog mich anzusprechen. Befürchtete sie, ich würde die Fotografien teuer verkaufen um Geld damit zuverdienen? Oder wollte sie sich als Beschützerin der Kinder profilieren? Oder gab es unter den Kindern solche, die sich illegal in Frankreich aufhielten und nicht entdeckt werden durften? Absurd.

Ich liess mich auf keine Diskussion ein, einerseits aus fremdsprachlichem Unvermögen und andererseits weil die Situation bereits sehr emotional aufgeladen schien. Insofern hat mein fremdsprachliches Unvermögen mich vor einer sinnlosen Diskussion und eventuell Schlimmerem bewahrt. Eine Diskussion hätte zu keiner Klärung der Situation geführt, sondern nur gestört. Trotzdem hat mich das Ganze im Nachhinein beschäftigt.

«Ich frage nicht vor dem Fotografieren, dann würde die Person anders in die Kamera schauen. Ich frage sie auch nachher nicht, dann würde ich Gefahr laufen, ein gutes Foto löschen zu müssen. Will jemand ein Foto gelöscht haben, tue ich dies umgehend.» (Fotograf Thomas Leuthard im Interview im Tagesanzeiger 15.08.2011)

Genauso habe ich es bisher und werde ich es auch in Zukunft handhaben mit der Hoffnung nie angeklagt zu werden. Und wenn doch, würde ich für die Kunstfreiheit kämpfen. Sie hat mich übrigens nicht darum gebeten, die Fotografie zu löschen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie diesen Bericht sieht, schätze ich gering ein. Darum getraue ich mich die entstandene Fotografie, das Korpus Delicti, zu publizieren. Allerdings nur in zensurierter Version.

Die Ausstellung war übrigens phantastisch. Für mich eine Entdeckung, da ich Willy Ronis bisher noch nicht kannte.
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