March 8, 2010 / erstellt am:  March 10, 2010
Kurzgeschichte

Meine Nachbarin

Sie ist auch schon etwas in die Jahre gekommen. Ihre strukturierten Tagesabläufe haben sich vielleicht etwas verlangsamt, sind aber in den Grundzügen die selben geblieben. Jeden Tag ausser sonntags steht sie um sieben Uhr auf. Den Wecker braucht sie eigentlich nicht mehr zu stellen, weil ihre innere Uhr sie automatisch kurz vor sieben Uhr weckt. Ihr Mann darf noch etwas länger liegen bleiben, während sie in der Küche das Frühstück vorbereitet.

Früher, als ihr Mann noch nicht pensioniert war, war sie richtig froh, wenn er und die Kinder rechtzeitig nach dem Frühstück und der Morgentoilette das Haus verlassen hatten. Sie war froh darüber, weil der Haushalt nun ihr alleine gehörte. Sie war Meisterin über die Vierzimmerwohnung, die sie täglich in Schuss hielt. Sie weiss, dass ihr Mann es gerne sauber und ordentlich hat, auch wenn er es nie gesagt hätte. Aber sie spürt es in ihrem Herzen und glaubt es sogar an seinen Augen zu sehen, wenn er abends von der Arbeit nach Hause kam. Jetzt geht er nicht mehr zur Arbeit, ist pensioniert. Aber zum Glück hat er noch seinen Bastelkeller, wo er sich beinahe täglich ziemlich bald nach dem Frühstück und dem Zeitungslesen verzieht und erst kurz vor Mittag wieder in der Wohnung auftaucht. Inzwischen putzt sie das Geschirr in der Küche, saugt den Staub, lüftet alle Zimmer, geht einkaufen und eben alles was eine Hausfrau so tut. Sie hat sich nie gefragt, ob sie diese Arbeit eigentlich mag. Sie weiss nur, dass sie lieber Hemden bügelt, als das Bücherregal abstaubt. Sie stellt sowieso nicht viele Fragen. Sie ist es gewohnt zu schweigen. Natürlich spricht sie mit ihrem Mann, ab und zu. Allerdings ist das auch weniger geworden mit den Jahren. Sie kennen sich ja gut und wissen alles von einander. Nur manchmal am Abend, wenn sie gemeinsam die Nachrichten im Fernsehen schauen, kann es passieren, dass sie über ein Thema zu diskutieren beginnen. Sie mag diese Diskussionen allerdings nicht sonderlich gerne, weil ihr Mann wütend wird, wenn sie ihm widerspricht. Darum übernimmt sie meistens die Meinung ihres Mannes. Dem Frieden zu liebe. Ihre beiden Kinder sind längst erwachsen und ausgezogen. Mit ihnen spricht sie einmal pro Monat am Telefon. Sie sind viel beschäftigt und haben ihr eigenes Leben. An den Feiertagen kommen dann alle wieder nach Hause und es gibt ein grosses Fest. An solchen Tagen steht sie sogar noch eine Stunde früher auf, damit sie die ganze Arbeit, die sie sich vorgenommen hat, erledigen kann. Sie ist glücklich, wenn ihre Kinder und ihr Mann glücklich sind. Ansonsten versucht sie zu helfen, auch wenn sie eigentlich niemand um Hilfe bittet.

Als Aussenstehenden stellt man sich die Frage, ob diese Frau nie das Bedürfnis auszubrechen hat oder hatte. Sie wirkt weder besonders glücklich noch unglücklich. Sie geniesst ihre relativ sichere Position, merkt jedoch nicht, dass sie selber als Person zu kurz kommt. Sie hat ein Leben lang nur gegeben. War da für ihre Kinder und für ihren Mann. Hat alles getan um die Bedürfnisse ihrer Familie zu befriedigen. Aber nein, es wird so weitergehen. Nichts wird sich verändern, ausser dass sie älter und schwächer wird. Und eines Tages wird sie sterben. Es bleibt nur zu hoffen, dass zumindest ihr Tod bemerkt wird, denn ein grosses Loch wird sie nicht hinterlassen. Ihre Kinder werden sie nicht vermissen, ihr Mann vielleicht einwenig, aber vielleicht stirbt er auch eher als sie, was wahrscheinlich ist, da die Lebenserwartung der Frauen höher ist als die der Männer.

Bei dieser Geschichte handelt es sich weder um meine Mutter noch um eine andere mir bekannte Person. Sie ist frei erfunden und entspricht dem klassischen Klischee einer gutbürgerlichen Hausfrau. Erschreckend nur, dass es tatsächlich Frauen gibt, die diesem stereotypen Bild ziemlich nahe kommen. Ich gebe zu, dass ich an eine Nachbarin gedacht habe, als ich dies aufschrieb. Ich habe mir vorgestellt, wie ihr Leben aussehen könnte, obwohl ich diese Nachbarin gar nicht gut kenne, ihr nur ab und zu im Treppenhaus begegne. Wir grüssen uns jeweils höflich und wünschen uns einen schönen Tag, wie man das halt so macht, wenn man den Nachbaren in einem Mehrfamilienhaus begegnet und nicht engeren Kontakt wünscht. Dennoch machte ich mir Gedanken zu ihrem möglichen Leben. Wahrscheinlich und hoffentlich ist es ganz anders. Trotzdem gab ich dieser Geschichte den Titel «meine Nachbarin», weil ich überzeugt bin, dass es irgendwo solche Nachbarinnen gibt.

723 Wörter
3'732 Zeichen (ohne Leerzeichen)
4'452 Zeichen (mit Leerzeichen)
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