March 9, 2010 / erstellt am: March 10, 2010 Kurzgeschichte Wenn Karim und Myriam kommunizierenKarim und Myriam leben in derselben Wohngemeinschaft zusammen mit anderen jungen Studenten und Studentinnen. Jede und jeder hat sein eigenes Zimmer verteilt auf mehrere Stockwerke. Geteilt wird nur Bad, WC und Küche. Eine klassische Wohngemeinschaft eben. Karim und Myriam haben ihre Zimmer sogar auf demselben Stockwerk, begegnen sich deshalb aber nicht öfters, als die anderen. Ich vermute, dass Karim bereits länger in dieser Wohngemeinschaft lebt und Myriam neu hinzugestossen ist. Zu Beginn konnten sich die beiden nicht besonders gut leiden, weil sie zu viele Gegensätze vermuteten. Karim ist eher der Chaot und Myriam die Aufgeräumte. Karim ist nicht besonders zuverlässig, Myriam hingegen legt grossen Wert darauf. Karim nimmt es nicht so genau, auch nicht mit dem Putzplan. Myriam hingegen schon. Es gibt also viel Konfliktpotenzial zwischen den beiden und doch wohnen sie in derselben Wohnung auf demselben Stockwerk und sind beide bemüht den anderen zu respektieren.Erst seit kurzem gibt es einen Internetanschluss für jedes Zimmer und ein neues Zeitalter der Kommunikation begann in der Wohngemeinschaft. So begannen nämlich Karim und Myriam übers Internet miteinander zu kommunizieren. Eigentlich eine absurde Vorstellung, wenn man bedenkt, dass sie Tür an Tür nebeneinander wohnen. Sie hätten zum Beispiel einfach in die Küche gehen und kaffeetrinkend gemeinsam reden können. Das taten sie auch ab und zu, aber eigentlich eher selten und nur wenn beide zufällig sich gerade in der Küche befanden. Es hätte sogar gereicht, wenn beide ihre Türen der Zimmer geöffnet hätten und sich beide auf ihren Stühlen von den Laptops abgewendet und den Türen zugewendet hätten. So hätten sie sich gesehen und mit etwas lauterer Stimme sogar verstanden. Aber nein, die Türen blieben zu und beide starrten lieber auf den Monitor ihrer Laptops und ihre Finger huschten über die jeweiligen Tastaturen. So entwickelte sich ein reger Austausch, in dem beide in ihren Zimmern vor dem Laptop sitzend, gegenseitig ihre Nachrichten schrieben. Myriam konnte übrigens schneller und gewandter schreiben als Karim. Es kann aber auch sein, dass Karim nur so tut, als ob er nicht gut schreiben könnte. Was er allerdings damit bezwecken will, ist mir ein Rätsel. Eigentlich kenne ich Karim und Myriam überhaupt nicht. Ich bin auf der Internetplattform facebook auf die beiden gestossen. Sie führten mehr oder weniger öffentlich einen Dialog, den ich aufmerksam verfolgt habe. Dabei kam ich mir schon irgendwie wie ein Voyeur vor, allerdings ohne wirklich etwas zu sehen ausser Buchstaben. Ein Mitleser war ich, was meine Phantasie beflügelte. Ich begann mir vorzustellen, wie Karim und Myriam leben und wer sie sind. Ich erfand ihre Geschichte und setzte sie fort. Karim spricht Myriam immer als Nachbarin an. «Hallo Nachbarin». Während Myriam überhaupt keine Anrede verwendet ausser «du». Karim ist sowieso der Aktivere. Er schreibt zuerst und Myriam reagiert darauf. Vielleicht entspricht dies einfach klassischem Rollenverhalten. Der aktive Mann und die passive Frau. Oder vielleicht macht sich Karim insgeheim Hoffnungen und ist deshalb aktiver. Vielleicht ist es auch nur Zufall, da der Dialog erst ein paar Tage dauert. Es fällt auf, dass die beiden einen sehr eigenen, spontanen Schreibstil pflegen. Sie kümmern sich wenig um eine korrekte Grammatik. Viel lieber vermischen sie eigene und fremde Dialekte mit eigenen Wortschöpfungen um möglichst unkonventionell und eigenständig zu wirken. So entsteht eine eigene Kommunikationsform. Beinahe alles ist möglich. Ich habe den Eindruck, dass es alles sein darf, was nicht an Schule oder Studium erinnert. Ich könnte nun eine romantische Liebesgeschichte zwischen den beiden entstehen lassen. Gegensätze ziehen sich bekanntlich an. Ich könnte aber auch den Kleinkrieg zwischen den beiden ausbrechen lassen, weil die meisten Wohngemeinschaften an denselben kleinlichen Problemen scheitern und die unterschiedlichen Auffassungen im Bezug auf Ordnung und Sauberkeit einfach nicht unter einen Hut bzw. unter ein Dach zu bringen sind. Beinahe alles ist möglich. Ich habe den Eindruck, dass es... Soeben ist eine neue Nachricht von Karim auf facebook erschienen. «Hallo Nachbarin». Er habe sich verliebt und werde noch Ende Monat das Zimmer in der Wohngemeinschaft verlassen und zu seiner frischen Liebe ziehen. Reichlich überstürzt, findet Myriam. Aber Karim scheint sich seiner Sache sicher zu sein. Es liegt auf der Hand, dass sich Karim und Myriam nicht mehr so oft schreiben werden. Da Karim seine Zeit in Zukunft vor allem mit Sylvia verbringen wird. Bei ihr wird er wahrscheinlich noch eine ganz andere Kommunikationsform anwenden. 711 Wörter 4'000 Zeichen (ohne Leerzeichen) 4'708 Zeichen (mit Leerzeichen) |