March 10, 2010 / erstellt am:  March 10, 2010
Kurzgeschichte

Der Moralist

Es ging ihm auch oft so. Er sah etwas, las etwas, erlebte etwas, er machte sich seine Gedanken, regte sich vielleicht sogar auf, vergass es dann aber wieder. Vor allem wenn er darüber geschlafen hatte. Am nächsten Morgen sah alles meistens wieder ganz anders aus. Aber in diesem Fall beschäftigte es ihn länger. Vielleicht sogar länger, als es ihm lieb war. Am Morgen, als er aufwachte, war es sein erster Gedanke und auch während dem Zähneputzen, Frühstücken und zur Arbeit gehen, musste er daran denken. Es irritierte ihn sogar, dass er ständig daran denken musste, weil es eigentlich nichts Wichtiges war. Darum sprach er auch nicht mit seiner Frau darüber, sondern entschied es aufzuschreiben mit der Hoffnung, dass er es dann beiseite legen konnte.

Es geschah am Abend zuvor. Auf Empfehlung einer Freundin besuchte er eine Veranstaltung in einem Kulturzentrum. Eigentlich war es einfach eine Bar mit einer Bühne auf der Kulturelles dargeboten wurde. An diesem Abend stand eine Art künstlerische Diashow auf dem Programm. Zu einem gewissen Thema zeigten Künstler und Künstlerinnen ihre Fotografien. Das Ganze wurde untermalt mit passender Musik und passenden Geräuscheinlagen. Schon als er das Lokal betrat war er erstaunt darüber, dass alle Tische und Stühle besetzt und die Anwesenden in Gespräche vertieft waren. Es wurde gesprochen, getrunken, gelacht und bestimmt auch geflirtet, wie er vermutete. Was man eben so macht, wenn man sich mit Freunden in einer Bar trifft. Als dann die Diashow begann, änderte sich jedoch nichts daran. Die Menschen sprachen, tranken, lachten und flirteten weiter und erhaschten nur ab und zu einen Blick auf die Leinwand. Die waren gar nicht wegen der Diashow gekommen, dachte er. Die ganze Szenerie wurde für ihn noch absurder und mit der Zeit unerträglich, weil das Thema der Diashow «Prostitution» war. Es wurden Fotografien von alten Prostituierten während ihrer Arbeit gezeigt. Man sah schwabbeliges Bauchfett, hängende Brüste und haarige Männerärsche. Auch wenn gewisse Fotografien leicht unscharf waren, aus künstlerischen Aspekten oder doch eher aus Schamgefühl, wurde seine Fantasie und seine Gefühlswelt erregt. Erregt nicht im Sinne von sexuell erregt, denn erotisch war es überhaupt nicht, eher im Gegenteil. Es war abstossend und bemitleidenswert. Aber noch viel abstossender und bemitleidenswerter empfand er alle Anwesenden, die einfach weiter sprachen, weiter tranken, weiter lachten und weiter flirteten.

Haben diese Menschen denn keine Moral? Wollen sie nur noch Kultur konsumieren, weil man das so macht, wenn man dazugehören will? Machen sich diese Menschen keine Gedanken über das Gesehene, Gelesene oder Erlebte? Gehört Voyeurismus in einer tabulosen Zeit einfach dazu? Kann unter dem Deckmantel der Kunst heute alles möglich sein? Spielen Werte, Prinzipien und Moralvorstellungen keine Rolle mehr? Gehen politischer und moralischer Verfall der Gesellschaft nicht Hand in Hand, wie es schon einmal in der Geschichte der Fall war? Wäre es uncool und unangebracht, wenn man sich zu viele Gedanken macht und die dann auch noch äussert?

Fragen über Fragen, die ihn beschäftigten, die ihn sogar begannen zu quälen. Das Aufschreiben des Erlebten hatte nicht die Wirkung, dass er es danach beiseite legen konnte. Im Gegenteil er steigerte sich immer mehr hinein, begann neben Abscheu auch Hass zu empfinden. Hass gegen all diese ignoranten Kunstinteressierten, denen die Kunst nur als Vorwand diente, sich mit ihren Freunden zu treffen, um zu sprechen, zu trinken, zu lachen und zu flirten. Eigentlich sah er nur drei Möglichkeiten, wie er mit all den quälenden Fragen, der Abscheu und dem Hass umgehen konnte. Entweder passte er sich an und wurde auch so oberflächlich und ignorant und vergass seine Fragen, seine Abscheu und seinen Hass oder er lehnte sich dagegen auf. Da er aber nicht wusste, wie er sich dagegen auflehnen sollte, entschied er sich für die dritte Variante. Er zog sich von den Menschen zurück. Er blieb zu Hause, versuchte den Kontakt mit anderen Menschen zu meiden. Er schaute auch kein Fernsehen oder hörte kein Radio oder las keine Zeitungen und Bücher mehr, weil ihn auch da die Menschen nur noch aufregten. Er lebte zurückgezogen und alleine in seiner kleinen Wohnung, die er täglich putzte. Zur Arbeit ging er nämlich auch nicht mehr, weil er auch da mit anderen Menschen zusammen traf. Er trennte sich von seiner Frau und von seinem Freundeskreis und kaufte sich einen Hund, mit dem er lange Spaziergänge in den Wald machte und immer hoffte, dass er niemandem begegnete. Den Tag hindurch pflegte er seine Wohnung und seine Kakteensammlung und schrieb Geschichten mit viel Moral und konservativem Anstand. Er lebte eigentlich ganz glücklich ohne zwischenmenschlichen Kontakt. Nur ab und zu besuchte er eine Prostituierte um seine sexuellen Bedürfnisse zu befriedigen.

758 Wörter
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