March 11, 2010 / erstellt am:  March 11, 2010
Kurzgeschichte

Eine Begegnung

Gestern habe ich sie getroffen. Nach vielen Jahren wieder. Sehr vielen Jahren sogar, so dass ich sie zuerst gar nicht wiedererkannte. Sie ist heute eine junge Frau. Weil wir im selben Dorf aufgewachsen sind, wissen wir, wer der oder die andere ist, kenne uns aber nicht wirklich. Leider stimmt es nicht immer, dass aus einem hässlichen Entlein ein hübscher Schwan entsteht. Sie war überhaupt nicht hübsch und machte auch keinen glücklichen Eindruck.

Ich traf sie das letzte mal vor vielen Jahren, wie gesagt. Ich weiss nicht wie viele Jahre genau. Aber sie war noch ein Kind und ich bereits ein Jugendlicher. Ich erinnere mich aber noch gut an unsere letzte Begegnung. Es war im Sommer. Wir waren beide im Freibad. Ich war wahrscheinlich mit meinen Schulkameradinnen und -kameraden da, während sie mit ihren Eltern das Bad besuchte. ich weiss noch, wie ich sie plantschend im Kinderbecken gesehen habe. Sie war fröhlich und vergnügt. Ihr Lachen hörte sich zwar eher an wie ein Quitschen, was sie jedoch nicht zu stören schien. Es schien sie des weiteren auch nicht zu stören, dass sie ziemlich pummelig war. Es ist nicht gelogen, wenn man sogar von einem fetten Kind spricht. Hinzu kam auch noch eine Brille mit dicken Gläsern, die ihre Augen riesengross erscheinen liessen. Sie musste die Brille sogar zum Baden im Kinderbecken auf dem Kopf behalten, weil sie sonst wahrscheinlich überhaupt nichts gesehen hätte. Nur an den rötlichen Haaren, die zu einem Rossschwanz zusammengebunden waren, war nichts auszusetzen. Die schiefen Zähne und die abstehenden Ohren vervollständigten das Bild eines hässlichen Kindes. Aber ich sah ihr zu, wie sie vergnügt im Kinderbecken des Schwimmbades spielte und sich des Lebens freute.

Nein, sie war wirklich kein hübsches Kind und ich dachte mir bereits damals, dass sie die unbeschwerte Zeit der Kindheit noch geniessen soll. Ich war irgendwie gerührt, weil ich ahnte, dass es nicht immer so bleiben würde. Bereits in der Schule werden die Probleme beginnen, wenn sie von ihren Schulkameradinnen und -kameraden gehänselt wird. Kinder können bekanntlich sehr brutal sein. Sie wird ausgegrenzt, verstossen und zur Aussenseiterin. Alle Bemühungen dazu zu gehören werden scheitern. Zuerst wird sie wütend und dann traurig. Ihr quitschendes Lachen wird man nicht mehr oft hören und es werden viele Tränen fliessen. Mitleid war nicht immer meine Stärke. Wie sie hatte auch ich eine unbeschwerte Kindheit. Im Gegensatz zu ihr, hatte ich danach eine unbeschwerte Jugend und ein mehr oder weniger glückliches Erwachsenwerden. Ich habe sie seither nie wieder gesehen, obwohl wir im selben Dorf aufgewachsen sind. Vielleicht gingen wir sogar zur selben Schule, aber wahrscheinlich wollte ich sie gar nicht mehr sehen.

Wie gesagt, die Zeit meinte es nicht gut mit ihr. Sie wurde zwar schlanker mit den Jahren, jedoch nicht hübscher. Weder fett noch abgemagert sehen schön oder gesund aus, auch wenn in der Modebranche zum Teil eine andere Meinung zum Schönheitsideal befolgt wird. Natürlich kann man einwenden, dass das Äussere nicht so wichtig ist, dass die inneren Werte viel mehr zählen. Allerdings werden diese inneren Werte durch die Verletzungen, Ausgrenzungen und Hänseleien bereits in der Kindheit geprägt, so dass die Entwicklung zu einer selbstsicheren und starken Persönlichkeit erschwert wird. Auch das Umfeld in dem man aufwächst spielt eine Rolle. Allerdings kann man dieses Umfeld ja auch nicht auswählen, sondern wird einfach ungefragt hineinversetzt. Es ist schwierig zu beurteilen, wie viel wir tatsächlich in unserer Entwicklung selber beeinflussen können. Meine Möglichkeiten zu beeinflussen, waren vielleicht etwas grösser, als die ihren. Ich stand aber auch immer auf der Sonnseite des Lebens.

Ich begegnete ihr also wieder. Wir haben nicht gesprochen miteinander, da wir uns ja nicht wirklich kannten. Erst auf den zweiten Blick und nur einen ganz kurzen Moment sah ich, immer noch durch ihre dicken Brillengläser hindurch, in ihren Augen das unbeschwerte Mädchen von früher. Heute ist sie drogenabhängig und HIV-positiv. Es hat mich gerührt aber auch irgendwie beschämt, als sie mir ein kleines Lächeln schenkte.

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