March 13, 2010 / erstellt am:  March 13, 2010
Kurzgeschichte

Das Papierflugzeug

Auf meinem persönlichen Anerkennungsranking war mein Deutschlehrer etwa im Mittelfeld. Ich mochte ihn nicht besonders, was jedoch eher an meiner Pubertät als an ihm selber lag. Meine Pubertät äusserte sich vor allem mit Rebellion. Gegen alle und alles. Ich wollte Grenzen austesten, Grenzen überschreiten und Grenzen zu Fall bringen. Vor allem im Schulunterricht war mir dazu jede Gelegenheit Recht. Der Leidtragende war unter anderen Herrn Kutscher, mein Deutschlehrer.

Er war kein schlechter Lehrer. Er hatte zwar viel Mühe, gab sich aber auch viel Mühe mit uns Pubertierenden. Sein Handicap war, dass sich beim Sprechen, vor allem wenn er viel sprechen musste, was öfters vor kam, an seinen Mundwinkeln sein Speichel sichtbar ansammelte. Wir fanden das natürlich unglaublich lustig und kicherten mehr oder weniger heimlich, wenn es wieder einmal so weit war. Wenn es um Literatur ging, war sein Unterricht zeitweise richtig spannend. Auch wenn er jeweils zu schäumen begann, wie wir es nannten, konnte er unsere Aufmerksamkeit beim Erzählen von Geschichten auf sich lenken. Bei Grammatik jedoch, fanden wir ihn langweilig und begannen herumzublödeln. Heute weiss ich, dass Autorität nichts mit der Körpergrösse zu tun hat. Er war jedoch keine besonders autoritäre Persönlichkeit, was wir uns damals mit seiner geringen Körpergrösse erklärten. Auch in Sachen Souveränität war er nicht gerade Weltmeister. Er konnte sich einfach nicht durchsetzen. Jedoch einmal, erinnere ich mich, sorgte er für Gesprächsstoff in den Pausen und versetzte uns alle in Erstaunen.

Während einer Deutschstunde, als es um das Versmass von alten Gedichten ging, fanden wir es lustiger uns gegenseitig geheime Botschaften zukommen zu lassen, als am Unterricht teil zunehmen. Am besten funktionierte dies mit Papierflugzeugen. Um dem Unterrichtsthema treu zu bleiben, verfassten wir unsere Botschaften auch in Gedichtform. Nachträglich betrachtet eigentlich eine aussergewöhnliche Leistung. Wenn Schüler und Schülerinnen schon selbstständig beginnen Gedichte zu reimen, sollte man dies honorieren. Die sonst eher etwas braveren Mädchen waren übrigens genauso beteiligt. Herr Kutscher fand jedoch keinen Gefallen daran. Zuerst ignorierte er ja noch unser Treiben. Als wir es jedoch immer bunter trieben, schritt er ein. Beziehungsweise kam er gar nicht drum herum als zu reagieren, weil ausgerechnet ein Papierflugzeug mit einer besonders brisanten Botschaft, direkt auf ihn zu steuerte. Beinahe elegant erfasste er es im Fluge mit seiner Hand bevor es mit seinem Kopf kollidiert wäre. «Von wem kommt das?» war seine rhetorische aber bestimmte Frage auf die natürlich niemand antwortete. Unser betretenes Schweigen vermischte sich mit der plötzlichen Angst, dass er die geheime Botschaft im Papierflugzeug lesen könnte, was er dann auch tat. Es war mausmäuschenstill im Klassenzimmer. Ich als Verfasser der Botschaft, begann leicht zu schwitzen. Als er seinen Blick wieder hob und in die Klasse schaute sagte er nur: «Schwanzlutscher schreibt man ohne tz.»

Ich war so was von baff. Nicht nur, dass Herr Kutscher dieses Wort in den Mund genommen hat, pardon, ich meine ausgesprochen hat, sondern dass er mich dabei angeschaut hatte. Obwohl ich am liebsten im Erdboden versunken wäre, war mein Deutschlehrer seither bei mir im Anerkennungsranking um einiges gestiegen.

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