March 14, 2010 / erstellt am:  March 14, 2010
Kurzgeschichte

Die geliebte Sängerin

Er hatte sich beeilt um nicht zu spät zu kommen. Direkt nach der Arbeit war er losgerannt, obwohl rennen sonst nicht seine Art ist sich fortzubewegen. Aber das Konzertlokal war nicht weit entfernt von seinem Arbeitsort und er wollte keinesfalls zu spät kommen. Gemäss Programm sang heute Abend seine Geliebte ein Solokonzert im Konservatorium. Er wusste nicht genau, was sie sang und das Programm hatte er zu Hause liegen gelassen. Wo und wann, wusste er jedoch noch und so musste er sich beeilen. Sie sang irgend etwas Klassisches, da sie nur Klassisches sang, weil sie in einer klassische Ausbildung war und in der Klassik kannte er sich eben nicht so gut aus.

«Geliebte» ist ein blödes Wort. Es klingt veraltet. «Mätresse» wäre noch schlimmer. Es scheint nichts Zeitgemässeres zu geben um eine Freundin zu beschreiben, die vom selben Mann neben der verheirateten Frau geliebt wird. Und lieben tut er übrigens beide. Jede auf ihre Art. Beide sind sehr unterschiedlich und wie meistens in dieser Konstellation weiss nur die eine von der anderen. Die Ehefrau weiss nichts von der Geliebten, was nach ihm auch so bleiben sollte.

Er kam noch gerade rechtzeitig im Konzertsaal an. Wie kann man auch nur ein Konzert so früh am Abend ansetzen, dachte er noch. Aber gleichzeitig war er erstaunt, dass so viele Besucherinnen und Besucher anwesend waren. Kamen die wirklich alle, um seine Geliebte singen zu hören? Soll er sich nun eher geschmeichelt oder eifersüchtig fühlen? Aber er hatte nicht mehr viel Zeit um sich weitere Gedanken machen zu können. Er suchte sich einen guten Platz, beziehungsweise nahm was noch übrig war und setzte sich eher im hinteren Bereich gleich neben dem Gang hin. Schnell putze er sich den Schweiss vom Rennen von der Stirn und versuchte seine Atmung zu beruhigen. Bevor es im Saal dunkel wurde, konnte er noch feststellen, dass er leicht «underdressed» war. Seine Nachbarin trug Abendrobe und ihr Mann, oder der Mann der neben ihr sass, trug schwarzen Anzug. Er hingegen sass in Jeans und einem verwaschenen Hemd auf dem bequemen Sessel und hiess, wie alle Besucherinnen und Besucher, die hereinkommenden Musiker mit Applaus willkommen.

Das Konzert begann zuerst nur instrumental. Es kam ihm so vor, als ob man das Erscheinen seiner Geliebten noch hinauszögern wollte um eine gewisse Spannung zu erzeugen. Was bei ihm auch zutraf. Denn je länger es dauerte, desto gespannter und nervöser wurde er. Er war zum ersten mal an einem Konzert von ihr. Eigentlich kein Grund zum nervös werden, da er ja wusste, dass sie eine gute Sängerin ist, beziehungsweise, dass er von anderen gehört hatte, dass sie es sein soll. Obwohl das Orchester bestimmt wunderbar und fehlerfrei spielte, begann es ihn zu nerven. Er wollte jetzt endlich seine Geliebte sehen und hören. Aber das Orchester spielte weiter und sie trat nicht auf die Bühne. Nach ungefähr einer halben Stunde fand er es nicht mehr lustig. Er fragte sich schon insgeheim, ob er im falschen Konzert gelandet war oder ob er das Datum verwechselt hatte. Unruhig rutschte er auf seinem Sessel herum. Immerhin sind die Sessel bequem, dachte er noch, als plötzlich ein Mann den Gang entlang auf ihn zu kam. Während des Konzertes, das ist doch unmöglich. Aber der Mann steuerte eindeutig mit grossen und entschlossenen Schritten auf ihn zu. Natürlich entstand eine gewisse Unruhe im Saal. Einige Besucher drehten sich um und sahen, wie der Mann direkt vor ihm stehen blieb. «Lassen sie meine Frau in Ruhe», schrie der grosse Mann und verpasste ihm eine schallende Ohrfeige, dass es durch den ganzen Saal hallte. Der Knall wiederholte sich wie bei einem starken Echo.

In dem Moment erwachte er. Er sass immer noch auf dem bequemen Sessel im Konzertsaal. Der Schlussapplaus, den er für das Echo hielt, hatte gerade begonnen. Da entdeckte er seine Geliebte vorne im Scheinwerferlicht auf der Bühne. Sie verneigte sich gerade vor dem Publikum. Die Nachbarin in der schönen Abendrobe schaute zu ihm hin und sagte: «Sie haben aber einen gesunden Schlaf.» Er lächelte ihr verlegen zu und war etwas beunruhigt, weil er wusste, dass er normalerweise beim schlafen ziemlich laut schnarchte. Natürlich hat er nachträglich seiner Geliebten verheimlicht, dass er während ihrem Konzert eingeschlafen war. Er fand ihr Konzert wunderbar und sehr entspannend.

708 Wörter
3'653 Zeichen (ohne Leerzeichen)
4'355 Zeichen (mit Leerzeichen)
<<