March 15, 2010 / erstellt am:  March 15, 2010
Kurzgeschichte

Die Portraitaufnahme

Eigentlich war es ihm schon aufgefallen, als er die Wohnung betrat. Es war zwar nur so ein Gefühl, aber irgend etwas stimmte nicht. Irgend etwas konnte nicht passen, nur wusste er noch nicht was. Noch tappte er im Dunkeln, auch wenn die Wohnung, die er gerade betrat, lichtdurchflutet war.

Die Wohnung gehörte einer älteren Frau. Es war zwar schwierig ihr Alter zu schätzen, aber sie musste schon etwas älter sein. Sie war sehr gepflegt, stilvoll gekleidet und hatte sogar etwas Damenhaftes. Aber da war eben auch etwas Spezielles, etwas Aussergewöhnliches, etwas was ihn auf sie aufmerksam gemacht hatte. Genau darum sprach er sie auf der Strasse auch an. Da kannte er nichts. Da hatte er keine Hemmungen. Wenn er sich für jemanden interessierte, dann sprach er diese Person einfach an. Spontan und unverfroren, aber immer charmant. Er konnte seine Anrede auch immer gut begründen. Er sei auf der Suche nach interessanten Menschen, die er gerne portraitieren würde. Die Fotokamera sah man über seine Schulter gehängt. Bei der Formulierung «interessante Menschen» fühlten sich die meisten bereits geschmeichelt und stimmten nach einigen weiteren überzeugenden Argumenten bereitwillig zu. Sein selbstsicheres und sympathisches Auftreten halfen bestimmt auch die Gefragten zu gewinnen. Dabei war es nur ein Hobby von ihm. Er konnte seine Fotografien an keine Zeitung oder kein Magazin verkaufen, jedenfalls noch nicht. Denn insgeheim hoffte er schon darauf, dass dies eines Tages gelingen würde.

Die bereits erwähnte Frau fiel ihm sogleich auf, als sie mit ihrem Hund spazieren ging. Vielleicht war es auch der Hund, der ihm zuerst auffiel, oder die Kombination Frau und Hund, die nicht so recht zusammenpassen wollte. Es war nämlich eine amerikanische Bulldogge. Ein ziemlich grosser und kräftiger Hund, kein Schosshündchen. Erst auf den zweiten Blick sah er, dass auch die Frau eher robust gebaut war und dennoch etwas Elegantes und Zierliches an sich hatte. Wie gewohnt, zögerte auch sie einen kurzen Moment, fasste aber schnell Vertrauen und freute sich auf den Termin den sie vereinbarten. Der erste Termin war meistens in irgend einem Restaurant, einem neutralen Ort, und hatte für ihn den alleinigen Zweck das Gegenüber davon zu überzeugen, dass er die Portraitaufnahme gerne bei der Person zu Hause machen würde um eine möglichst persönliche und authentische Fotografie erstellen zu können. Eine Wohnung verrät viel über eine Person und manchmal wurde er sogar richtig überrascht, weil er die Menschen falsch eingeschätzt hatte. Sein intimes Anliegen erforderte meistens etwas längerer Überzeugungsarbeit, da es schon eine unglaubliche Öffnung der Privatsphäre bedeutete, was ihm bewusst war. Oft kamen gewisse Zweifel erst später auf, nur weil die Leute plötzlich begannen zu denken, was alles passieren könnte. Andere, der eher dreisten Sorte, witterten plötzlich ein Geschäft und wollten Geld verlangen, worauf er das Gespräch sofort abbrach und das Treffen verliess. Ebenso reagierte er, wenn die Menschen plötzlich aufdringlich wurden, weil sie die Chance eines schnellen Abenteuers witterten. Insofern war dieses erste Gespräch immer sehr aufschlussreich für beide Seiten. Bei der erwähnten Frau, gab es nach dem ersten Gespräch jedoch keine Bedenken. Sie war etwas seltsam, zugegeben, aber er hatte den Eindruck, dass sie ihn gerne zu sich nach Hause einlud. Sie lebte alleine zusammen mit ihrem Hund und war nicht abgeneigt etwas Gesellschaft zu haben.

In der hellen Wohnung wurde er zuerst von der Bulldogge bellend empfangen. Er hatte nichts gegen Hunde ausser Respekt, besonders wenn sie etwas grösser waren. Allerdings mochte er es gar nicht, wenn die Hunde ihn ablecken wollten. Da schritt die Frau jedoch ein und rief ihren Klaus, wie sie ihn nannte, zu sich zurück. Bei einem Tee und einem Stück Kuchen besprachen sie im modern eingerichteten Wohnzimmer die geplante Portraitaufnahme. Während dem Gespräch wurde klar, dass Klaus auch auf die Portraitfoto musste. Es stellte sich nämlich heraus, dass Klaus für sie nicht einfach nur ein Hund war. Er war mehr. Ein treuer Begleiter, wie ein Freund. Und plötzlich wurde ihm klar, was er bereits beim Betreten der Wohnung spürte. So wie sie von ihm sprach, voller Liebe und Zuneigung, so wie sie mit ihm umging, respektvoll und gleichberechtigt, war Klaus für sie wie ein Ehemann. Sie sah keinen Hund in ihm. Sie war seine Frau und er ihr Mann. Eigentlich wollte er sich gar nicht vorstellen, was die beiden im Schlafzimmer... aber der Gedanke war bereits vorhanden, er war sich sogar ziemlich sicher... es schauderte ihn. Er erinnerte sich an die warme, feuchte Zunge von Klaus bei der Begrüssung. Ihm wurde schlecht.

Trotzdem gelang die Portraitaufnahme. Man sieht die Frau ihren Klaus umarmend auf dem Sofa im Wohnzimmer sitzend und dabei in die Kamera lächelnd. Er achtete beim Fotografieren einzig darauf, dass die Zunge von Klaus nicht zu sehen war.

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